Drei Jahre und ein Tag auf der Walz

Zuvor wird das Ohr mit einem Stift an die Werkbank genagelt

Angeblich ist der junge Huttenheimer der einzige gelernte Schreiner in Deutschland, der momentan „auf der Walz“ ist. So wird die Zeit der Wanderjahre für Handwerksgesellen genannt, die für gut drei Jahre durchs Land ziehen und in verschiedenen Betrieben arbeiten.

Der 24-jährige Johannes Harrass ist derzeit auf Wanderschaft, hat kürzlich Abschied von seinen Eltern und seiner Freundin genommen. Für „Drei Jahre und ein Tag“, wie es im Titel des Liedes von Reinhard Mey heißt, kehrt er seiner Heimat den Rücken, lässt Familie und Freunde zurück.

Am Ortseingang von Huttenheim verabschiedeten ihn so 70 Verwandte und Bekannte. Mit dabei auch Bürgermeister Stefan Martus und Ortsvorsteher Markus Heil. Dort musste er das gelbe Ortsschild als Ersatz für den Grenzstein überklettern, sich obenauf setzen und ein Bier trinken. Zuvor galt es, noch eine Flasche Schnaps zu vergraben, auf die er bei seiner Rückkehr zurückgreifen kann. Erst nach Erledigung dieser Vorgaben konnte er die lange Reise antreten. Allerdings durfte er sich hinter dem Ortsschild nicht umdrehen und nicht den Zurückgebliebenen zuwinken. So sieht es die Tradition vor.

Wer auf die Walz geht, folgt einem jahrhundertealten Ritual. Seit dem 12. Jahrhundert streifen Gesellen durch fremde Gefilde. Organisiert sind die „Walzer“ in Schächten. Der Jungschreiner gehört zur Gesellenbruderschaft der Freien Vogtländer Deutschlands. Seit 2014 ist die Walz von der Unesco in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Bis Januar 2027 wird Johannes Harrass unterwegs sein und alle Regelungen befolgen. So darf er sich nicht näher als 50 Kilometer seinem Wohnort nähern. Was seit dem Mittelalter Voraussetzung war, um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden, hat sich als Tradition erhalten: Um fremde Orte zu sehen, neue Arbeitspraktiken in mehreren Betrieben kennenzulernen, Lebenserfahrung zu sammeln und mitunter Abenteuer zu erleben. Nicht länger als ein Vierteljahr darf er in einem Betrieb arbeiten. Dann geht’s weiter.

Da keinerlei Verbindungen nach Hause bestehen, da ein Handy und andere Kontaktmöglichkeiten untersagt sind, können die Angehörigen nur vermuten, dass er sich nach Hannover aufgemacht hat. Dort bekommt er das begehrte Wandergesellenbuch. Mit Stempeln aus den Rathäusern muss er seine Routen nachweisen.

Wenn es losgeht mit der Walz, wird der Neuling von anderen Gesellen abgeholt und eine kurze Strecke begleitet. In den ersten drei Monaten leistet ihm ein Altgeselle Hilfe, zeigt, wie man auf der Walz reist und um Arbeit vorspricht. Begehrt ist die „Ehrbarkeit“, die in Form einer Anstecknadel verliehen wird. Zum Regelwerk der Walz gehört diese Ehrbarkeit: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Achtung vor der Ehre der Mitmenschen.

Die Tippelei ist aber auch eine lange Fortbildungsreise. Ob zu Fuß oder per Anhalter: Wandergesellen reisen meist wenig komfortabel. „Heute hier, morgen dort“, so heißt ein Folksong von Hannes Wader. Was dieser 1972 beschreibt, wird auch die Erfahrung des Huttenheimers sein. Der 24-Jährige hat eine Schreinerausbildung, den Gesellenbrief, bereits einen Teilmeister gemacht, ist sogar Preisträger, war drei Jahre selbstständig. „Von der Walz träumte er schon immer“, verrät seine Freundin Alicya Schäfer, die jetzt auf ihn verzichten muss. Sie gönne ihm sein Glück. „Unser Johannes wusste schon früh, dass er einmal auf Wanderschaft gehen würde“, erzählt seine Mutter, die hin und wieder nasse Augen bekommt, zumal es keine Erreichbarkeit für ihren Sohn in der Fremde gibt.

Als Wandergeselle nimmt Johannes Harrass eine traditionelle Ausstattung mit auf die Reise: den gedrehten Stock, auch Stenz genannt, sein „Charlottenburger“, ein Reisebündel mit Schlafsack und mit Kleidung. Dazu kommt noch das Wanderbuch. Zum markanten Hut, den er nur in den seltensten Fällen absetzen darf, trägt er schwarze Kluft als Schreinertracht. Diese darf er nicht ausziehen.

Ein eigenes Handy oder ein Anruf in einer Telefonzelle sind auf der Walz absolut tabu. Auch muss er ohne Geld auskommen, sich irgendwie durchkämpfen. Ein anderes Relikt lässt schaudern: Vor der Walz wird jeder wanderbereite Handwerksbursche mit dem Ohr an eine Hobelbank genagelt. Sechseinhalb Minuten musste sich der Huttenheimer gedulden, bis der Stift aus seinem Ohrläppchen gezogen wurde. Um an die Tradition anzuknüpfen, tragen alle Wandergesellen heutzutage noch einen Ohrring.

 

Schmidhuber

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